INHALTE, KONTEXTE UND ZIELE DES WORKSHOP "KRITIK DER PRAXIS. PRAXIS DER KRITIK" -ZUM EINSTIEG
Als Martin Walser mehr oder weniger kunstreich über den "Tod des Kritikers" fabulierte, schlugen die Wellen der Kritik hoch - und bestätigten so nicht bloß den Fortbestand, sondern mehr noch den Siegeszug des Genres Kritik in der öffentlichen Rede Deutschlands. Diese Diskussion des Sommers 2002 in den Leserbriefen ebenso wie in den Feuilletons, die Wut auch im Ton vieler Beiträge machten zudem deutlich, dass die Verwaltung von Kritik (und Moral) längst nicht mehr nur auf einige wenige JournalistInnen und WissenschaftlerInnen beschränkt ist, sondern dass kritisches Bewusstsein, der Soziologe Michael Rutschky hat mehrfach darauf hingewiesen, zunehmend popularisiert, aber auch demokratisiert ist. Kritik ist ein zentrales Narrativ und Medium der Selbstverständigung in modernen, post- oder auch spätmodernen Gesellschaften. Wissensgesellschaften wie die mitteleuropäischen sind dadurch geprägt, dass deren Alltage in hohem Maß verwissenschaftlicht sind, dass wissenschaftliche Theorien und Methoden, Stile und Ordnungen in die Alltage einwirken und dort wiederum verändert werden. Gerade in diesen Wissensgesellschaften aber, in denen es vorrangig um eine "permanente Umwälzung des Wissensbestandes und der Wissensstruktur der Gesellschaft" (Wingens 1999, 439) geht, kommt der Kritik (ob nun in aufklärerischer oder pragmatischer Absicht) eine wichtige Funktion zu: Permanent gilt es, zu sichten und auszuwählen, zu verwerfen, zu beurteilen, zu kanonisieren und Übersichtlichkeit zu schaffen, um schließlich zu entscheiden. Über die Kulturtechnik des Kritisierens wird aus Information, aus dem, "was roh, spezifisch und praktisch ist", Wissen - "das Gekochte ..., das gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte" (Burke 2001, 20). Als WissenschaftlerInnen bewegen wir uns in einem mehrfach besetzten und schwierigen Feld: Da ist einerseits der seit ,1968' traditionelle gesellschaftliche Auftrag besonders auch an Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen, die Gegebenheiten unserer Gesellschaften und Kulturen kritisch zu hinterfragen und zu deren positiver Veränderung beizutragen. Dies ist freilich ein Auftrag, der noch von der Deutungshoheit der Wissenschaften über andere gesellschaftliche Felder ausgeht. Kritik ist ein integrativer Bestandteil der "moralischen Ökonomie" (Daston 2001) unserer Fächer; auch in zeitgenössischen Reformpapieren, die dem Ideal einer "Wirtschaftlichkeit" von Bildung und Wissen geschuldet sind, wird ein solcher Anspruch formuliert. Die Kulturen der Geistes- und Sozialwissenschaften definieren sich zentral über die Kompetenz des Kritisierens. Gleichzeitig haben wir eine voranschreitende "Entmystifizierung" (Beck 1982, 10) der Wissenschaften zu gewärtigen, paradoxer- wie logischerweise, ein Resultat der Verwissenschaftlichung der Alltage. Andererseits sind da die vielfachen Konkurrenzen von kritischen Institutionen und individueller Kritik, mit denen wir uns in und mit unserer Kritik messen lassen müssen: die prompte Kritik, das eindeutige, in Handeln umsetzbare Urteil sind gefragt. "Strukturkritik" aus der Verspätung heraus von der "Tageskritik" zu trennen, wie dies Roland Barthes (2001, 181) vorschlägt, dürfte ein zunehmend schwieriges Unterfangen darstellen. Wissenschaftliches Arbeiten - und dazu gehört der Akt des Kritisierens - ist keineswegs ein hermetisches; es ist eng verschränkt mit gesellschaftlichen Ansprüchen und ökonomischen Verwertungszusammenhängen. Kritik, davon gehen wir in unseren Überlegungen aus, ist heute ein so unverzichtbares wie überfrachtetes Genre und Medium. Alltäglich und selbstverständlich hantieren wir mit diesem Medium, ohne eigentlich zu reflektieren, dass und inwiefern diese Formen und Strategien des Kritisierens bedingt und abhängig sind von kulturellen Traditionen und von sozialen Normen, Beziehungen und zentralen Kategorien (Gender, Generation etc.). Unreflektiert bleibt zumeist auch, dass Praktiken der Kritik nicht unabhängig sind von Praktiken der Anerkennung. Wenn wir also kritisieren (und diesen Teil des Vertrages zwischen Wissenschaften und Gesellschaft sollten wir nicht aus den Augen verlieren) dann sollten wir nicht vergessen, immer auch "unter den eigenen Füßen zu graben, um das Geflecht unserer Selbstdeutungen neu zu knüpfen" (Assheuer 2001). So werden uns auch Praktiken des Kritisierens interessieren, wie sie in scientific communities gepflogen, gelehrt und tradiert, werden. Insofern man sich in akademische Kontexte stellen will, gelten bestimmte Normen, Regeln und Usancen. Etwa die eines konkretes Wissenschaftsfelds mit seinen Institutionen, Publikationsorganen und bevorzugten Genres, damit verknüpft sind je spezifische Erwartungen. All das ist in Bewegung, Wandel ließe sich beobachten. "Standards dessen, was ,man tut' beziehungsweise ,was man nicht tut', verändern sich, bilden sich - in lauteren und leiseren Prozessen - neu aus" (Lanzinger 2003) Interessant wäre hier zu fragen, wo sich VerfasserInnen wissenschaftlicher Rezensionen und beispielsweise KunstkritikerInnen (Theater, Bildende Kunst etc.) treffen und ob und wo sie Welten trennen. Spannend ist zu recherchieren wie einem Kritik beigebracht wird - etwa, und uns naheliegend, in der universitären Lehre. Als kritische Haltung allgemein (Schmid 2001, 20ff; 65ff; 115ff; Arnold u. a. 2001, bes. 267ff u. 343ff) oder als konkrete und angewandte Formen von Kritikkultur, Rezensionswesen zum Beispiel: Der Schreib-Guide Geschichte fordert, dass RezensentInnen im Bereich historischer Disziplinen "das jeweilige Buch im Vergleich mit anderen ähnlichen oder verwandten Werken bewerten [müssen]. Die Kompetenz, über ein bestimmtes historisches Gebiet zu lesen, zu reflektieren und zu schreiben, haben sie in jahrelanger beruflicher Praxis entwickelt." (Schmale 1999, 84) Versteht man Kritik als eine gendered Praxis - als Genderangelegenheit und gendered Angelegenheit, tut sich ein weites Feld zur Reflexion auf (vgl. List 1999). So haben Frauen, um bei den Wissenschaften zu bleiben, im Zuge feministischer Forschung und feministischer Wissenschaftskritik viele Themen und Problemfelder überhaupt erst als solche erkannt und durch ihre Kritik zu neuen Methoden, Ansätzen und Zugangsweisen angeregt. Andererseits, die Rache folgt auf dem Fuß?, wird Wissenschaftlerinnen qua Geschlecht mitunter ein höheres kritisches Potenzial zugesprochen. Da sie mit ihren marginalen Rollen im Wissenschaftsbetrieb ohnehin nicht viel zu verlieren hätten, analysieren Martin Fuchs und Eberhard Berg, fiele ihnen Reflexion und damit ein selbstkritischer Zugang zur eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit leichter (1996, 66).
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